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Über das Bergkirchlein in
Obertüllingen
Von Dr. Annemarie Heimann (Fotos: Thomas Quartier)

Im hohen Mittelalter
schon wurde die Kirche in Tüllingen in Zusammenhang mit dem
Kloster St. Blasien genannt. In einer Urkunde von 1173 wird
Tüllingen mit anderen wichtigen Besitzungen St. Blasiens
namentlich aufgeführt, während die kleineren Kirchen
summarisch genannt werden. 1275 ist Tüllingen Dekanatssitz
des Wiesentals.
Ende des 15. Jahrhunderts liegen die
Abgaben des Pfarrers von Tüllingen an den Bischof von
Konstanz beim Durchschnitt der Pfarreien im Dekanat
Wiesental. Dennoch war Tüllingen durch das ganze Mittelalter
hindurch eine ansehnliche Pfarrei, und die fromme Legende
von der frühen Gründung wird sich nicht zu Unrecht
überliefert haben. Danach sollen drei der Gefährtinnen der
Hl. Ursula sich auf drei benachbarten Anhöhen niedergelassen
haben und sich bis zu ihrem Tode gegenseitig zugeläutet
haben:
St. Chrischona – St. Margareta hinter Basel –
St. Odilia auf dem Tüllinger Berg.
Auch die Lage der
Kirche auf der höchsten Bergkuppe in natürlicher
Festungslage, wie frühmittelalterliche Michaelskirchen,
weist auf eine sehr frühe Gründungszeit. Leider ist nicht
mehr festzustellen, ob Michael oder ein Anderer Patron der
Kirche war. Schon im 11. Jahrhundert bestanden Ober- und
Niedertüllingen; die Kirche steht bei der kleineren oberen
Siedlung, wird also früher als Niedertüllingen bestanden
haben.
Die vorbildliche Renovierung von 1955 hat der
Kirche im Großen und Ganzen das spätmittelalterliche
Aussehen zurückgegeben.

Der schlichte
einschiffige Gemeinderaum, dessen Südwand zwar in barocker
Zeit hinausgeschoben wurde, wird im Osten durch einen
polygonalen Chor mit spitzbogigen Fenstern abgeschlossen,
die beim barocken Umbau ihres Maßwerks beraubt worden sind.
Die beiden Portale im Westen und an der Nordseite des Chores
tragen den einzigen erhaltenen gotischen Schmuck.
Der Turm an der Südseite des Chores, schmucklos und wehrhaft
im Satteldach, ist wie alle Markgräfler Türme schlecht zu
datieren, ist aber sicher älter, als der jetzige Chor.
Im Inneren kam bei der Renovierung ein für die Gegend
typisches spätmittelalterliches Kunstwerk zutage: An der
Nordwand des Chores wurde eine Sakramentsnische eröffnet,
die – nach den erhaltenen Fragmenten zu urteilen – durch
einen reich profilierten Dreipassbogen mit Kreuzblume
gerahmt wurde. Zu beiden Seiten waren Konsolen, entweder für
Engelsfiguren, die häufig als Begleitung der im Schrein
verwahrten Hostie erschienen, oder für Propheten mit
Spruchbändern, wozu es auch Analogien in der Gegend gibt.
Der Bogenzwickel ist ausgefüllt mit der sehr merkwürdigen
Darstellung des Stifters. Ein sitzender Kleriker in Albe und
Kasel mit gefalteten Händen trägt auf dem Kopf den Kelch mit
der Hostie.

Eine Urkunde von 1474 gibt
hierfür sehr wertvollen Aufschluss. In jenem Jahr ist
nämlich Pfarrer Christofferus Bernadus von Tüllingen
gestorben. Wenn man ihn als Stifter annimmt, bekommt der
Kelch auf seinem Kopf einen tiefen Sinn: Der Geistliche
lässt sich als Christusträger darstellen, wie sein Name
sagt. Durch sein Todesdatum bekommt man einen ziemlich
genauen Zeitpunkt für die Entstehung des Kunstwerks.

Unter der
Sakramentsnische ist eine zweite, flache, aber breite
Öffnung in der Mauer, an deren Rückwand die drei Frauen am
Grab in Halbfiguren gemalt sind. Der dazugehörige Leichnam
Christi – wohl aus Holz, wie in der Gegend üblich – ist
nicht mehr vorhanden.
Diese Kombination von
Sakramentsschrein und Heiligengrab ist für das
Markgräflerland typisch. Während im Allgemeinen das Hl. Grab
nicht im Chor beim lebendigen Leib Christi sein durfte, denn
es war ja das Grab des Herrn, wo alljährlich die Liturgie
des Triduum Sacrum gefeiert wurde, finden wir sämtliche
Gräber des Markgräflerlandes an dieser Stelle der Kirche.
Der Einfluss des mächtigen Klosters St. Blasien gibt die
Erklärung:
Überall, wo es Besitz und den Pfarrsatz
hatte, war auch eine Liturgie maßgeblich, nach der das Hl.
Grab im Chor zu stehen hatte, wie Abt Gerbert berichtete,
was außerhalb seines Bereiches gerade vermieden wurde. Diese
liturgische Eigenheit St. Blasiens geht zusammen mit der
gallikanischen Liturgie, in deren Bereich die
Sakramentstürme die Form des Hl. Grabes haben. Die
Verbindungen müssten noch näher untersucht werden; die durch
St. Blasien angenommene Reform von Cluny gibt noch keine
befriedigende Erklärung.
Durch das irrationale
Beieinander von lebendigem Leib Christi im Sakrament und dem
Grab Christi wird das andachtsbildhafte betont, das den
Beter immer, auch ohne liturgischen Handlung anrief und ihm
verhalf, sich in die Geheimnisse des Glaubens zu versenken.

Über dem Schrein breitet
sich ein Bild bis zur Decke.
Es ist die Manna-Lese,
die alttestamentliche Antithese zu dem lebendigen Brot des
Neuen Bundes, wie es schon Johannes (6, 49.58) deutet. Im
Vordergrund sind Gruppen von heftig gestikulierenden
Menschen, die das Himmelsbrot sammeln, unter ihnen Moses mit
den Gesetzestafeln.
Im Mittelpunkt ein Felsklotz,
vielleicht ist der Isteiner Klotz gemeint, im Hintergrund
dehnt sich eine bergige Landschaft mit einem Fluss. Im
oberen Teil des Bildes erscheint Gottvater mit zwei Engeln
in den Wolken.
Durch die behutsame Restaurierung von
Adelheid Brodwolf-Überwasser ist ein gut erhaltenes Gemälde
zutage gekommen, das allerdings die Leuchtkraft seiner
Farben verloren hat, während sie bei den Frauen noch
vorhanden sind (aber seit der Entdeckung auch schon
eingebüßt haben). Während die Ausdruckskraft des Künstlers
sich bei der alttestamentlichen Szene in heftigen Gebärden
äußert, ist es bei den drei Frauen am Grab die
Differenziertheit des Gefühlsausdrucks – alles Züge, die an
Conrad Witz erinnern, so dass eine Zuschreibung an diesen
nicht auszuschließen ist (leider gibt es keine Fresken von
Conrad Witz – bis jetzt!).
Die Entstehungszeit ist
1460-1474, dem Todesjahr des mutmaßlichen Stifters.
Bei einer erneuten Innenrenovation im Jahre 1971 wurde das
Kirchenschiff als „Gemeinderaum“ – unter Beratung und
Mitwirkung des staatl. Hochbauamtes Schopfheim – mit einer
modernen Bestuhlung versehen, um eine vielseitigere
Verwendung zu ermöglichen. Die letzte umfassende Renovation
erfolgte im Jahre 2013.
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